Kommission

Die Kommission Kulturanalyse des Ländlichen ist eine Forschungskommission der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (dgekw). Die Kommission konstituierte sich am 20. September 2017 während des dgv-Kongresses "Wirtschaften" in Marburg. 

Die Kommission dient als Plattform und Netzwerk für die zahlreichen Wissenschaftler:innen, die sich im Fach mit Kulturen in ländlichen Räumen und Ländlichkeit in historischer wie gegenwartsbezogener Perspektive beschäftigen. Zugleich möchte die Kommission den interdisziplinären Austausch im Rahmen der Rural Studies mit Nachbardisziplinen wie der Agrargeschichte sowie der Rural Sociology und Humangeographie konzertiert fördern. Zu diesem Zweck finden in regelmäßigen Abständen Workshops und Arbeitstagungen statt.
Neue Mitglieder – sowohl studentische Interessent:innen wie etablierte Kolleg:innen – sind jederzeit herzlich willkommen. Voraussetzung für die Mitarbeit ist die Mitgliedschaft in der dgekw.

Sprecher:innen der Kommission sind aktuell Jun.-Prof. Dr. Barbara Wittmann (Bamberg) und Dr. Eike Lossin (Oldenburg).


Der Forschungshorizont der Kommission umfasst unter anderem folgende Problemkomplexe.

1) Gegenwärtig erlebt die Kategorie Ländlichkeit eine Konjunktur. In Zeiten globaler Vernetzung, Beschleunigung und Ent-Sicherung der Lebensverhältnisse erfährt der ländliche Raum als kulturelle Imagination im Sinne Moscovicis und Lefevbres espace vécu eine ebenso dynamische wie divergierende öffentliche Aushandlung. Pole des Spannungsfeldes sind zum einen Aspekte wie Gemeinschaft, Authentizität, Naturnähe, Gesundheit und Sicherheit, zum anderen Konsum, Freiheit, Exotik oder Nachhaltigkeit. Verbunden mit neuen Modellen der Governance, der Digitalisierung, der Medialisierung und den Logiken des ästhetischen Kapitalismus verändern diese kollektiven Imaginationen die Handlungsmöglichkeiten der ländlichen Bevölkerung, etwa im ländlichen Tourismus oder der Vermarktung regionaler Produkte. Sie führen aber auch zu neuen Ungleichheiten und Machtkonstellationen, beeinflussen ländliche Geschlechterverhältnisse und verschieben vielerorts die Beziehungen zwischen Stadt und Land. In dieser politisch wie wirtschaftlich außerordentlich relevanten Aushandlung von Ländlichkeit spiegelt sich – oft populärmedial vermittelt – ein Spektrum kultureller Wertehaltungen, Befindlichkeiten und Bedürfnisse, das von romantisch „volkskulturellen“ Lesarten bis hin zur grünen Fortschrittsutopie reicht.

2) Diese bemerkenswerte, aktuelle Konjunktur des „Ländlichen“ gründet auf einer Reihe umfassender Veränderungen des materiellen ländlichen Raumes (espace perçu): Weite Teile des ländlichen Europa durchlaufen im 21. Jahrhundert einen elementaren Transformationsprozess. Das bestimmende Movens, das die ländlichen Räume seit den 1990er-Jahren prägt, ist im Wesentlichen dreifacher Natur. Zum einen verändert die internationale Ernährungsindustrie in ihrer Globalisierung landwirtschaftlicher Produktions- und Vertriebswege traditionelle Erwerbsformen in ländlichen Regionen grundsätzlich. Zum zweiten zeigt sich der umfassende Strukturwandel bestimmt durch eine beschleunigte Appropriation der ländlichen Räume durch die Konsum-, Tourismus- und Unterhaltungsindustrie. Sie schlägt sich etwa in der Veränderung der Landschaft durch die Etablierung von Freizeitparks, Erlebnisweihern oder (Rad-)Wanderinfrastruktur nieder. Eine dritte, jüngere Entwicklung betrifft die Nutzung des dünn besiedelten ländlichen Raumes als Standort für erneuerbare Energien und deren Industrie, zum Beispiel in Form gewaltiger Solarfelder oder weithin sichtbarer Biogasanlagen. Diese Veränderungen der ländlichen Ökonomie äußern sich einerseits in einem Rückbau der öffentlichen Infrastruktur, Abwanderung und demographischem Wandel. Sie schaffen andererseits aber auch neue Arbeits- und damit verbunden Landschafts- und Kulturformen. Eine weitere Diversifizierung der ländlichen Räume und ihrer Kulturen ist die Folge. Zu hinterfragen sind hierbei nicht allein die Veränderungen selbst, bzw. ihre Folgen, sondern im Besonderen auch die Akteur:innen des Wandels (etwa Lokalpolitiker:innen, Vereinsvorsitzende, Landwirt:innen) und die Regime, in denen diese globalen Veränderungen lokal ausgehandelt werden (LEADER-Förderprogramme, Agrar-Subventionen, etc.). Von Bedeutung ist dabei auch eine kritische Selbstreflexion der Forschenden, die als Expert:innen ebenfalls den Diskurs mitbestimmen und nicht selten als Gutachtende oder Berater:innen aktiv eingreifen.

3) Die konkreten Veränderungen in der alltäglichen gelebten Aushandlung des ländlichen Raumes betreffen nahezu alle Bereiche der alltäglichen Lebenspraxis und reichen von neuen Kulturen der Arbeit, der Mobilität, der Freizeit und Beheimatung bis hin zu neuen Formen des Konsums, des Wohnens und Familienlebens. Sie führen zu neuen kollektiven und individuellen Identitäten seitens der Akteur:innen. Neben defizitären „shrinkage mentalities“ (Dürrschmidt 2005) die sich häufig in Narrativen des „Zurückgebliebenseins“ artikulieren, entstehen mit Argumenten wie „Natur“, „Gemeinschaft“, „Freiheit“ vielfach auch dezidiert positiv besetzte Entwürfe eines „guten Lebens“ auf dem Land. Auch die Bewertung des Bäuerlichen durchläuft im Zuge der Transformation zahlreicher Betriebe und einer dynamischen Ideologisierung der Ernährungskulturen grundlegende, teils stark divergierende Veränderungen. 

4) Die gegenwärtigen Transformationen des ländlichen Alltags sowie die begleitende mediale Bildproduktion gründet auf Entwicklungen, die weit in das 18. Jahrhundert und davor zurückreichen und eng mit der Entwicklung der modernen Land- und Ernährungswirtschaft verzahnt sind. Besonders die Bedeutung der agrarischen Kulturen in den ländlichen Regionen und der damit verbundene Wertewandel des Bäuerlichen spielt hier erneut eine Rolle. Aktuelle Prozesse sollen daher aus ihrem historischen Kontext heraus verstanden und eingeordnet werden.

5) Grundsätzlich, so wurde es auch auf den Arbeitstreffen und Tagungen, die diesem Gründungsentwurf vorausgingen, deutlich, ist eine Diskussion des Begriffes „ländlich“ dringend nötig. Während „Stadtkultur“ sich im Fach als weitgehend klar umrissene Forschungsperspektive etablieren konnte, führt der Begriff „Ländlichkeit“ – jenseits strukturpolitischer Definitionen – zu terminologischen und semantischen Unsicherheiten, die in der Forschung (z.B. Gerndt 1973, Schwedt 1974) früh identifiziert wurden. Wie kann dennoch die erstaunliche öffentliche und politische Konjunktur von Ländlichkeit angesichts der Diversifizierung ländlicher Räume gerahmt und für eine kultur- und sozialanthropologische Wissensproduktion nutzbar gemacht werden?

Angesichts der skizzierten Entwicklungen und aktuellen Probleme besteht in der (Neu-)Fokussierung ruraler Kulturen ein dringendes Forschungsdesiderat für die Europäische Ethnologie. Die Komplexität ländlicher Bilder und Alltagspraxen bietet der Europäischen Ethnologie mit ihrem sensiblen, qualitativ-empirischen Instrumentarium die Chance, sich gegenüber Demographie, Politik und Statistik im Diskurs zu positionieren, Komplexität abzubilden, auf Widersprüche hinzuweisen und ein differenziertes Verständnis ländlicher Alltagskultur zu fördern. 


Kontakt:
Jun.-Prof. Dr. Barbara Wittmann
Dr. Eike Lossin


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